"Schau mal, da!" Wie wir Natur gemeinsam wahrnehmen
Hast du dich schon einmal gefragt, wie wir es schaffen, uns bei einer gemeinsamen Wanderung durch die Natur über beliebige Themen des Alltags zu unterhalten und uns gleichzeitig auf interessante Dinge in der Natur aufmerksam zu machen? An dieser Stelle könnte man zu Recht einwenden «wieso schaffen? Das ist doch schließlich gar nicht schwer!» Ja, das stimmt schon, aber…
Manche alltäglichen Dinge, wie zum Beispiel gemeinsam spazieren zu gehen, sind für uns so selbstverständlich, dass sie quasi in unserem Körper gespeichert sind. Wie das Fahrradfahren oder das Lesen. Einmal mühsam oder schmerzhaft erlernt, kann man es gar nicht mehr NICHT können. Es geht einfach ganz automatisch.
Um etwas Ähnliches geht es auch im folgenden Beitrag, nämlich um gemeinsame Naturerlebnisse. Ein gemeinsamer Spaziergang in der Natur scheint so selbstverständlich zu funktionieren, dass wir ganz vergessen haben, wie kompliziert er eigentlich ist.
Gemeinsame Naturerlebnisse auf einem Spaziergang, bei denen wir nebeneinander gehen, erfordern aber besondere Formen der Kommunikation. Hierbei sind sowohl sprachliche als auch körperliche Ausdrucksweisen wichtig. Denn wir kommunizieren nicht nur über Sprache, sondern auch über unseren Körper.
Diese besonderen Anforderungen an die Kommunikation bei einem Spaziergang haben wir im Nationalpark untersucht. Wir wollten herausfinden: Wie werden die eignen, persönlichen Naturerlebnisse zu gemeinsamen Erlebnissen und Erfahrungen?
Diese Forschung hilft uns auch, die Bedeutung der Natur für den Menschen besser zu verstehen.
Wir können zum Beispiel erkennen, welche konkreten Naturphänomene (Nebel oder Tautropfen) und Landschaftsmerkmale (außergewöhnliche Bäume, Pilze) Menschen interessant finden.
Bewerten sie diese zum Beispiel als «schön» oder «hässlich»?
Wenn wir etwas «schön» oder «hässlich» finden, dann macht das meist etwas mit uns – man kann auch sagen, es erzeugt «Resonanz». Das wiederum scheint wichtig zu sein, wenn wir insgesamt Erfahrungen machen. Erfahrungen sind Erlebnisse, die besonders im Gedächtnis abgespeichert werden.
Aber zurück zu den gemeinsamen Naturerfahrungen: Wie kann man sie am besten untersuchen? Mit einer ganz tollen Methode, den Eyetracking-Brillen!
Abbildung 2 zeigt die Eyetracker im Einsatz. Wie ein normales Aufnahmegerät nehmen diese Brillen Ton auf – in diesem Fall also die Gespräche während des Spaziergangs. Das Besondere ist aber, dass die Eyetracking-Brillen auch das Blickfeld der Person filmen und die Augenbewegungen der Person aufzeichnen, die die Brille trägt.
Man weiß also nach der Auswertung der Aufzeichnungen, was die Leute gesprochen haben und wo sie in der Landschaft hingeschaut haben.
Was haben die Auswertungen ergeben?
Wie wir oben ja schon gesagt haben, erfordert gemeinsames Gehen ständige gegenseitige Aufmerksamkeit und körperliche Koordination. Dies gilt insbesondere in der Natur.
- Unterschiedliche Ziele und Umgebungen beeinflussen die Art und Weise, wie Menschen gemeinsam gehen und kommunizieren. Durch den Vergleich mit anderen Eyetracking-Studien konnten wir zeigen, dass das gemeinsame Gehen und Kommunizieren bei Spaziergängen im Wald deutlich anders funktioniert als bei zielgerichteten Stadtspaziergängen. Wir wissen nun, dass es den Spaziergängerinnen und Spaziergängern im Nationalpark um Erlebnisse (vielleicht sogar auch kleine Abenteuer) geht. Sie wollen ihre Beobachtungen und Entdeckungen miteinander teilen und gemeinsam bewerten. Das unterscheidet Spaziergänge im Nationalpark schon einmal von Stadtspaziergängen! Durch den Austausch ihrer individuellen Wahrnehmungen und Erlebnisse entwickeln die Leute eine gemeinsame Sichtweise. Dies nennt man «Intersubjektivität».
- Um diese Intersubjektivität herzustellen, verwenden die Leute auf ihrem Spaziergang im Nationalpark gezielt bestimmte sprachliche Muster. Sogenannte Aufmerksamkeitsfokussierungen wie «Kuck mal» oder „Schau mal, wie schön das ist!“ lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Objekte. Sie drücken auch Gefühle (und Bewertungen) aus. Ausrufe wie „Kuck mal“ oder «schau mal» werden häufig von emotionalen Bewertungen im «Wie-Format» begleitet: «Wie schön/toll/geil/genial/mega (ist das denn)!».
Diese Kommunikationsmuster, das heißt «schau mal» + «Bewertung» (z.B. «wie schön»!) helfen uns dabei, eine gemeinsame Sichtweise zu entwickeln und individuelle Beobachtungen in gemeinsame Erfahrungen zu verwandeln. Dies gelingt, sobald eine gleichlaufende oder stärkere Bewertung des Zweiten erfolgt. Dadurch wird das gemeinsame Naturerlebnis gestärkt und die Teilnehmenden können ihre Eindrücke austauschen und diskutieren.
Abbildung 3 zeigt eine Beispiel, wie eine Szene für die Analyse verschriftet wird. In diesem komplexen System werden Bilder, Sprache und Bewegungen zusammen dargestellt.
Zusammenfassend können wir feststellen, dass Natur zwar von jedem Einzelnen wahrgenommen wird. Das persönliche Naturerlebnis richtet sich aber an Intersubjektivität aus, d.h. wir richten uns im Erleben schon auf ein gemeinsames Erleben aus und haben die Perspektive des Anderen ebenfalls im Blick. Wenn wir uns die Landschaft anschauen, überlegen wir häufig gleichzeitig, was dem Anderen gefallen könnte und weisen diese Person dann auf etwas hin («Kuck mal da, der Baum»). Die Art und Weise, wie wir unsere Kommunikation gestalten und unseren Spaziergangs-Rhythmus aufeinander abstimmen, zeugen davon. Naturerlebnisse sind also etwas gemeinsam Hergestelltes.
Hat all das auch etwas mit unserem Alltag zu tun?
Auf jeden Fall! Denn diese Erkenntnisse sind wichtig für ein viel größeres Ziel, das wir am Umweltministerium und als Gesellschaft mit der Großen Transformation insgesamt verfolgen: Den Wandel hin zu einem nachhaltigeren Lebensstil, der hilft, den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen. Denn viele Forscherinnen und Forscher, die sich mit Veränderungen, also mit Transformationen in der Gesellschaft, beschäftigen, gehen davon aus, dass wir zunächst einmal (gemeinsame) Naturerfahrungen brauchen. Erst dann können wir umweltbewusster handeln, also unser routiniertes Verhalten überdenken und verändern. Denn diese Routinen– wie beim Radfahren oder Lesen – sind uns in der Regel gar nicht bewusst. Um diesen zweiten Schritt anzugehen, müssen wir also zunächst verstehen, wie wir in der Natur miteinander kommunizieren und gemeinsame Naturerfahrungen machen.
In diesem Artikel haben wir gezeigt, was es mit den gemeinsamen Erfahrungen auf sich hat und wie sich Menschen während eines Spaziergangs in der Natur auf Dinge aufmerksam machen, die ihnen wichtig erscheinen. Demnächst findet Ihr hier noch einen weiteren Artikel, in dem wir darüber berichten, wie es funktionieren kann, dass zwei Menschen auf das gleiche Objekt oder den gleichen Gegenstand schauen, ohne darüber gesprochen zu haben.
Die Ergebnisse sind hier publiziert:
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Zur Person
Dr. Kerstin Botsch
Soziokulturelles Monitoring, Wahrnehmungen und Akzeptanz
Tel.: +49 7449 9 29 98 340
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