Kann Wildnisentwicklung beschleunigt werden?

01.12.2023 von Dr. Stefanie Gärtner in Kategorie : Nationalparkforschung
  • Hintergrund: Welche Entwicklung von Waldbeständen ist unter Prozessschutz zu erwarten? Was lässt sich im Wald erkennen?

    Prozessschutz heißt, Natur Natur sein lassen. In zuvor bewirtschafteten Waldbeständen wird das Holz nicht mehr genutzt. Es kommt zu einer natürlichen Waldentwicklung. Das bedeutet: die einzelnen Bäume werden alt, oft mehrere 100 Jahre, bevor sie absterben. Auch diese Absterbe- bzw. Zerfallsprozesse können sich über einen langen Zeitraum hinziehen. Bäume altern stehend und werden langsam zersetzt. Nadelbäume (Koniferen) verlieren ihre Nadeln, dann das Feinreisig. Die Borke blättert ab, Teile der Baumkrone brechen und fallen bis irgendwann der ganze Baum zusammenbricht. Bei einem Sturm kann ein Baum umfallen und gegebenenfalls dabei mehrere Nachbarn mit zu Boden reißen.

    Je nachdem, ob ein einzelner Baum über einen langen Zeitraum zerfällt oder mehrere Bäume gleichzeitig zu Boden gehen, entstehen unterschiedlich große Lücken im Kronendach. Die Größe der Lücke bestimmt die Menge des Lichts, das am Waldboden ankommt. Das wiederum bestimmt (unter anderem), welche Waldbaumarten an der Stelle keimen und die ersten schwierigen Jahre überstehen. Treffen Samen anderer Baumarten die Lücken, kommt es zu einem Wechsel der Baumartenzusammensetzung im Waldbestand.

    Wie auch immer die Bäume absterben – verschiedenste Prozesse führen zur Anreicherung von stehendem und liegendem Totholz, mehr oder weniger langfristigen Lücken im Bestand und einer vielfältigeren Baumartenzusammensetzung. Es entstehen Lebensräumen für verschiedenste Arten.

    Das Strukturanreicherungsexperiment – oder kann Wildnisentwicklung beschleunigt werden?

    Das Ziel des Projekts: Durch waldbaulichen Maßnahmen sollen Prozesse angestoßen werden, die zu einer höheren Biodiversität in den Waldbeständen führen. Stehendes und liegendes Totholz, Lücken im Kronendach oder eine vielfältigere Baumartenzusammensetzung in der Verjüngung schaffen Lebensräume. Dabei profitieren insbesondere Arten, die auf alte Waldentwicklungsphasen angewiesen sind und im Wirtschaftswald nicht oder nur selten zu finden sind.

    Das Projektteam um Prof. Dr. Jürgen Bauhus (Professur für Waldbau, Universität Freiburg) startete im Herbst 2016 zusammen mit der Nationalparkverwaltung Maßnahmen zur Strukturanreicherung in der Entwicklungszone des Nationalparks. Hierfür wurden 12 Flächen mit jeweils 0,25 Hektar in einem Gebiet mit ca. 80-jährigen Fichten ausgewählt. In sechs dieser Flächen wurden Strukturanreicherungsmaßnahmen durchgeführt, die anderen sechs Flächen blieben als Kontrolle unbehandelt.

    Mit welchen Maßnahmen wurde versucht die langfristigen Prozessschutzeffekte strukturell zu beschleunigen? Um langsame Absterbeprozesse anzustoßen, wurden Fichten geringelt, die dann zu stehendem Totholz werden. Die Effekte von Stürmen wurden durch das Umziehen von Bäumen simuliert. Ausführlich wird der Versuch in Pyttel et al. (2020) beschrieben. Weiterhin wurden im Frühjahr 2021 kleine Tannen, Buchen und Bergahorne gepflanzt. Zur Pflanzung und deren Entwicklung gibt es hier zu einem späteren Zeitpunkt einen weiteren Beitrag.

    Wie hat sich die Waldstruktur verändert?

    Jede der 12 Untersuchungsflächen wurde 2016 eingemessen. Dazu erfasste das Team jeden Baum mit einem Durchmesser von mehr als 10 cm in 1,3 m Höhe (= Brusthöhenduchmesser). Notiert wurde die Baumart, der Brusthöhendurchmesser, die Höhe, ob der Baum lebt oder bereits tot ist sowie die genauen Koordinaten. Alle liegenden Hölzer mit einem Durchmesser von 10 cm am dünnen Ende und mehr als 1 m Länge wurden ebenfalls eingemessen. Das Ganze wurde nach vier Jahren wiederholt. Wie unterschiedlich sich behandelte und nicht behandelte Flächen entwickelt haben, zeigen die Abbildungen 3 (behandelt) und 4 (unbehandelt). Wie zu erwarten, sind im Vergleich der beiden Flächen die Strukturanreicherungen zu erkennen.

    In Abb 5 lässt sich erkennen, dass sich vor der Strukturanreicherung 2016 die zu behandelten Flächen nicht von den nicht zu behandelnden Kontrollflächen unterschieden (Asbeck et al. 2023). Die signifikanten Unterschiede 2021 sind das angestrebte Ergebnis der Versuchsanlage: der Anteil der lebenden Bäume hat zugunsten von stehendem und liegendem Totholz abgenommen. Auch auf den Kontrollflächen sind Fichten aufgrund allgemeiner Effekte von Trockenheit und Bruchdrucker abgestorben, jedoch signifikant weniger als auf den behandelten Flächen.

    Strukturanreicherung ist kein Selbstzweck. Die weiterführenden Fragen sind: Was bringen Waldstrukturen für die biologische Vielfalt und vor allem für seltene und gefährdete Arten?

    Die Strukturanreicherung ist ein Mittel zum Zweck, mehr Lebensräume für verschiedenste Arten zu schaffen. Die Veränderung der Biodiversität wird durch die Forschenden der Nationalparkverwaltung kontinuierlich wissenschaftlich begleitet und dokumentiert. Unter anderem werden die in einem vorherigen Beitrag beschriebenen Methoden genutzt. Abweichend vom langfristigen Prozessschutzmonitoring werden im Fall des Experiments die Erfassungen in kürzeren Abständen (jährlich) wiederholt, da gerade am Anfang, also direkt nach einer Störung, sehr viel passiert. Es kann die Situation davor mit der danach verglichen werden kann. Diese Möglichkeit besteht normalerweise nicht beziehungsweise nur über einen sehr langen Zeitraum. Über die Entwicklung der Artenvielfalt und Lebensgemeinschaften über die Zeit hinweg werden wir zukünftig auch an dieser Stelle berichten.

    Hintergrund : Wissensdialog Nordschwarzwald – ein Reallabor

    Das vorgestellte Projekt der Professur für Waldbau (Universität Freiburg) war eingebettet in einen größeren Projektverbund, den Wissensdialog Nordschwarzwald

    Neben den unten aufgeführten wissenschaftlichen Publikationen wurde das Strukturanreicherungsprojekt auch vor Ort vorgestellt und mit interessierten Exkursionsteilnehmenden diskutiert sowie überregional, unter anderem in der Doku-Reihe "Faszination Wissen" im Bayrischen Rundfunk, thematisiert.

    Referenz:

    Asbeck T, Benneter A, Huber A, Margaritis D, Buse J, Popa F, Pyttel P, Förschler M, Gärtner S & Bauhus J (2023) Enhancing structural complexity: An experiment conducted in the Black Forest National Park, Germany. Ecology and Evolution 13: e9732. https://doi.org/10.1002/ece3.9732

    Pyttel P, Benneter A, Bauhus J (2020) 4 Heute Kulturwald – Morgen Urwald. Mit Waldbau den Wandel beschleunigen. (96-114) in: Rhodius R, Bachinger M, Koch B (Hrsg.) (2020) Wildnis, Wald, Mensch. Forschungsbeiträge zur Entwicklung einer Nationalparkregion am Beispiel des Schwarzwalds. Oekom, München. 245 S. https://doi.org/10.14512/9783962384760

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