„Wir wissen nicht, was passiert – aber wir sind neugierig“

08.07.2021 von Oliver Gewald in Kategorie : Blog
  • Wie sieht unsere Welt in 100 Jahren aus? Eine Frage, mit der sich Menschen schon seit jeher beschäftigen. Im Nationalpark Schwarzwald ist das anders – hier lässt sich Nationalparkleiter Thomas Waldenspuhl einfach davon überraschen, was passiert. Warum ihn eine Zeitkapsel dennoch reizen würde und was er sich für die Zukunft des Schwarzwaldes wünscht, verrät er im Doppelinterview mit Thomas Potthast, Professor für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften an der Uni Tübingen.

     

    Herr Waldenspuhl, sind Sie eher Optimist oder Pessimist?

    Thomas Waldenspuhl: Ich bin Optimist.

     

    Wie sehen Sie dann der Zukunft des Schwarzwalds entgegen?

    Thomas Waldenspuhl: Der wird sich massiv wandeln. (…). Das Ökosystem-Wald an sich kommt damit klar. Die Frage, ob wir als Menschen damit klarkommen, ist eine ganz andere. Ich muss mich also korrigieren – was das Klima angeht, bin ich doch eher Pessimist. Wenn wir als Menschen und als verantwortliche Handelnde für unsere Kinder und Enkelkinder die Temperaturerhöhung in den nächsten fünf bis zehn Jahren nicht verhindern und damit nicht in den Griff kriegen, dann wird die nächste Generation darunter leiden. Ihr Spielraum und ihre Lebensqualität werden massiv eingeengt werden.

     

    Ist dieser Pessimismus gerechtfertigt, Herr Potthast?

    Thomas Potthast: Ich lehne mich jetzt mal ganz konkret aus dem Fenster: Man hat ja bereits Erfahrungen in anderen Nationalparks wie dem im Bayrischen Wald gemacht, die Hoffnung machen. Dort hat sich der Wald in einer Art und Weise entwickelt und erholt, mit der wir gar nicht gerechnet haben. Dafür gibt es jedoch keine Garantie. Wir wissen nicht, was passiert – und wir müssen so offen sagen, dass wir es nicht wissen. Wir sollten aber auch gleichzeitig die Regenerationskräfte der Natur nicht unterschätzen. Ob diese sich dann zu etwas entwickelt, was uns gefällt und was wir gerne anschauen, ist damit noch lange nicht gesagt.

     

    Was macht Ihnen derzeit denn noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft?

    Thomas Potthast:  Na ja, dass es beispielsweise immer wieder engagierte, kluge, junge Menschen gibt, die sich für die richtige Sache einsetzen. Zum Beispiel Fridays for Future oder andere Bewegungen in Jugendorganisationen und in Umweltverbänden. Das ist eine positive Geschichte, die mir große Hoffnung macht.

    Thomas Waldenspuhl: Ich möchte noch etwas ergänzen: Als Ökosystem wird der Wald nie gefährdet sein. Er wird sich wandeln, aber wir werden ihn nicht verlieren, ungeachtet des Klimas. Allerdings wird sich der Wald in einem ganz anderen Zustand befinden. Wie Thomas schon sagte: Daraus ergibt sich die Frage, ob wir als Mensch damit leben können ¬– und überhaupt wollen. Das hängt auch damit zusammen, ob wir die Welt als Mitwelt oder als Umwelt wahrnehmen.

     

    Herr Potthast, können Sie diesen Ansatz der Mitwelt näher erläutern?

    Thomas Potthast:  Die Frage, wie wir die Welt um uns herum beschreiben, ist nicht ganz ohne. Das Wort Umwelt hat verschiedene Dimensionen: Wir verstehen darunter häufig das, was sich um uns herum befindet. Wir neigen dazu, diese Umwelt bestimmen zu wollen – sie hat gefälligst das zu tun, was wir möchten. Der Philosoph Klaus-Michael Meyer-Abich hat deshalb den Begriff der Mitwelt geprägt. Damit soll klar sein, dass wir aufs Engste mit ihr verbunden sind. Wir wissen ja schon länger, dass wir alleine auf unserer Haut jede Menge Mitbewohner mikrobiologischer Art haben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Idee der Trennung zwischen Menschen und anderen Lebewesen ganz und gar falsch ist. Die Idee der Mitwelt soll uns hingegen zeigen, dass wir uns gemeinsam eine Welt teilen.

    Prof. Dr. Thomas Potthast ist Professor für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie Sprecher des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW). Nach seinem Studium der Biologie und der Philosophie in Freiburg und der Promotion in Tübingen war er Postdoc am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Humboldt-Stipendiat an der University of Madison-Wisonsin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen heute in der Moralphilosophie, der Bioethik und der Umweltethik sowie in der Ethik und nachhaltigen Entwicklung der Praxisfelder Globaler Wandel, Landwirtschaft und Ernährung, Bioökonomie und Naturschutz.

    Dr. Thomas Waldenspuhl ist seit der Gründung des Nationalparks als Leiter tätig. Vor seinem Wechsel an die Nationalparkspitze leitete der Diplom-Forstwirt die Abteilung Wald und Gesellschaft in der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt des Landes in Freiburg.

    Herr Waldenspuhl, wäre es Ihr Wunsch, dass wir in 100 Jahren von einer Mitwelt sprechen?

    Thomas Waldenspuhl: Das steht für mich außer Frage: Wenn wir nicht von einer Mitwelt sprechen, werden wir den Klimawandel nicht mal annähernd bewältigen können. Die Corona-Krise hat ja schon gezeigt, wie sehr wir mit diesem Netz des Lebens verbunden sind und dass wir es nicht so im Griff haben, wie wir denken. Der Klimawandel und die weltweiten Auswirkungen – von Wanderbewegungen der Menschen über die Zunahme der Weltbevölkerung bis hin zur Energiewende – das alles wird uns massiv beeinflussen. Wenn wir also in Zukunft nicht von unserer Mitwelt sprechen, haben wir ein Problem.

     

    Nehmen wir an, Sie hätten eine Zeitmaschine und Sie reisen 100 Jahre in die Zukunft: Wie sieht der Nationalpark Schwarzwald dann aus?

    Thomas Waldenspuhl: Für mich als Nationalparkleiter wäre es hochinteressant, in diese Zeitmaschine zu steigen. Ich wollte dabei aber keine Verantwortung mehr tragen. Schließlich müsste ich das Wissen, das ich dann hätte, auch in die jetzige Gesellschaft tragen. Ich weiß nicht, ob ich damit klarkäme. Um auf die Frage zurückzukommen: Der Nationalpark an sich hat den Klimawandel bislang ohne Probleme bewältigt. Wir beobachten ja nur und bewerten nicht. Mal übertrieben formuliert: Es könnte auch ein Bambuswald sein. Das würde dann unserem Ansatz des Prozessschutzes entsprechen, das würde ich als Nationalparkleiter sofort unterschreiben.

    Thomas Potthast:  Da muss ich dir kurz widersprechen, Thomas. Natürlich wertet ihr, wenn ihr nach der Maxime handelt: Das, was passiert, das ist uns recht. Mit dem Nationalpark haben wir eine unglaubliche Chance. Wir können die Dinge einfach geschehen lassen. Das ist in Städten oder Siedlungen in dieser Form gar nicht möglich. Deshalb bietet der Nationalpark einen ungeheuren Schatz an Möglichkeiten. Vielleicht finden wir dort Dinge, die wir gar nicht erwartet haben – und zugleich können wir mit dieser Offenheit auch überfordert sein. Für uns ist es ja kaum möglich, Prognosen für die nächsten zehn Jahre zu machen. Wie sollen wir dann in dreistelligen Jahresdimensionen denken können? Aber das ist ja das Tolle daran: Wir machen im Nationalpark ein Gedankenexperiment, von dem wir wissen, dass unsere aktuellen Wissenssysteme gar nicht ausreichen, um uns ein klares Bild zu machen. Das ist eine Faszination – und die sollten wir auch schätzen.

    Thomas Waldenspuhl: Genau! Der Nationalpark ist keine Reise in der Vergangenheit, sondern ein Aufbruch in eine völlig neue, andere Welt. Wie diese dann aussieht, wissen wir nicht – aber wir sind neugierig. Darin liegen unglaublich viele Chancen.

     

    Herr Potthast, wäre eine derartige Zeitmaschine überhaupt ethisch und moralisch vertretbar?

    Thomas Potthast:  Das ist eine schöne Frage: Die Ethik der kontrafaktischen Science-Fiction. Ich glaube, über diese Frage haben sich Literatur und Film schon lange genug ausgelassen. Es gibt einen unglaublich reichen Schatz an derartigen Überlegungen: Wenn wir in die Zukunft reisen, können wir dann die Vergangenheit beeinflussen? Auch die Physik hat hier schon Überlegungen angestellt, die uns in Absurditäten des Denkens führen. Deshalb sollten wir das auch genau auf dieser Ebene ausprobieren – in Form von Literatur, von Film und von Spekulation.

    Thomas Waldenspuhl: Außerdem befinden wir uns ja bereits in einer Zeitmaschine. Wozu sollen wir das noch abstrahieren? Der Klimawandel und andere Prozesse, auch in unserer Gesellschaft, führen ja zu einem ständigen Wandel.

     

    Können Sie das genauer erklären?

    Thomas Waldenspuhl: Ich mache es an einem Beispiel fest: Wir unterscheiden zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit. Wenn man die starke Nachhaltigkeit zugrunde legt, müssen wir massiv jetzt in dem Klimawandel eingreifen. Es gilt das Vorsorgeprinzip. l Unser Experiment mit dem Klimawandel darf dann unter keinen Umständen schiefgehen. Alle Entscheidungen müssen das Vorsorgeprinzip beachten, denn wir haben keinen Planeten B. Der Ansatz der schwachen Nachhaltigkeit baut darauf, dass der Wald substituierbar ist durch andere Mittel, wie wissenschaftlicher oder technischer Fortschritt. Schwache Nachhaltigkeit kennt nicht das Vorsorgeprinzip. Schwache Nachhaltigkeit ist überzeugt, dass wir Menschen alles im Griff haben und bewältigen können. Wenn das allerdings dann schiefgeht, müssen wir Menschheit überlegen, ob wir in Zukunft auf dem Mars oder dem Mond leben wollen.

     

    Können Sie mit dieser beobachtenden Haltung, die dem Prozessschutz zugrunde liegt, überhaupt noch negativ überrascht werden?

    Thomas Potthast: Ja, selbstverständlich. Nach allem, was wir bisher wissen, erwarten wir in Mitteleuropa nach möglichen Bestandszusammenbrüchen der Vegetation nicht, dass es zu einer massiven Erosion und damit dem Wegspülen der gesamten Humusschicht kommt – obwohl das möglich ist. Das wäre eine gigantische Katastrophe! Man kann also sehr wohl noch negativ überrascht werden. Wir können einfach nicht definitiv sagen, was in 100 Jahren sein wird. Wir können natürlich auf Basis der aktuellen Klimaprognose und unseres jetzigen Wissens bestimmte Überlegungen anstellen: Wenn die Bedingungen ungefähr so bleiben, wie wir das derzeit annehmen, werden bestimmte Dinge eintreten. Es ist nicht so, dass wir nichts wissen. Aber unser Wunsch, alles ganz genau vorhersagen zu können, ist ein Gedanke, von dem wir uns verabschieden müssen.

    Thomas Waldenspuhl: Absolut, Thomas. Ich möchte etwas ergänzen: Diese Beobachtung, wie wir sie im Nationalpark anstellen, ist wunderbar, weil sie zur Reflektion anregt. Die Wahrheit an sich entsteht in einem Diskurs – niemand kann von sich behaupten, er hätte die allgemeingültige Wahrheit gefunden. Alleine diese Reflektion führt zu einer ungeheuren Offenheit gegenüber Diskursen. Diese Ethik der Zurückhaltung würde unserer ganzen Gesellschaft guttun. Ich würde mir wünschen, dass die zukünftige Gesellschaft über einen größeren Entscheidungsspielraum verfügt, als wir es derzeit haben. Dazu müssen wir aber unser eigenes Verhalten reflektieren und anschließend ändern – und genau das machen wir derzeit nicht. Ich bedauere selbst zutiefst, dass auch ich zu wenig Zeit für Reflektion habe.

     

    Trotz aller Beobachtungen: Was wünschen Sie sich denn für den Nationalpark in 100 Jahren?

    Thomas Waldenspuhl: Ich wünsche mir eine Natur, die den Menschen zu einem gelingenden Leben anregt – und eine Natur, die gelingendes Leben auch zulässt, mit einem höchstmöglichen Entscheidungsspielraum und einer hohen Lebensqualität. Ich wünsche mir, dass wir in dieser Natur erkennen, dass wir die Verantwortung für die nächsten Generationen tragen. Und ich würde mir wünschen, dass die Natur auch in 100 Jahren noch dieselben Möglichkeiten bietet, wie wir sie heute haben.

    Thomas Potthast: Das hast du so schön formuliert, dass ich es nur nochmal weniger schön umformulieren kann. Ich wünsche mir, dass wir auch dann noch die Möglichkeiten haben, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen – uns aber gleichzeitig überraschen lassen und neugierig in die Zukunft blicken.

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    Zur Person

    Oliver Gewald

    Bloggt im Auftrag von Kresse & Discher für den Nationalpark Schwarzwald.


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